
Urlaubszeit – Reisezeit. Im Urlaub gehen wir auf Reisen und wollen neue Kulturen, Orte und Menschen kennenlernen. Auch im Beruflichen haben wir Kontakt mit neuen Kulturen, Orten und Menschen. Anhand von drei beispielhaften UX-Interviews aus einem internationalen Projektkontext möchte ich hier einen kleinen Einblick in die interkulturelle Kommunikation mithilfe von Prototyping geben.
Wo wollen wir hin?
Am Anfang einer Reise steht die Planung: Wo soll es hingehen? Was wollen wir dort? Und was müssen wir dafür mitnehmen? In unserem Fall ging es in die Schweiz, nach Spanien, nach Portugal – und nach China, um dort jeweils Interviews mit den zukünftigen Nutzern einer geplanten Software zu führen.
Was packen wir ein?
Damit waren die Fragen geklärt, wo es hingehen und was gemacht werden sollte. Aber was war mitzunehmen? Für uns war schnell klar, dass wir einen Prototyp der zukünftigen Lösungen dabei haben wollten; und zwar in zwei Versionen. Wir haben also einen Papierprototypen und einen Clickdummy gebaut, um diesen in den Interviews nach Bedarf einzusetzen. Da es keine Reiseführer für Businesstrips gibt, haben wir uns unseren Reisezielen auf anderem Weg genähert und einen Blick auf die Kultur unserer Ziele geworfen.
Theoretischer Hintergrund: Lewis-Modell der Kulturen
Das Lewis-Modell ist eine praxiserprobte Vorgehensweise, die seit 1988 in über 800 multinationalen Unternehmen und 20 Universitäten mit über 70.000 Nutzern eingesetzt wird, und dabei hilft, die interkulturelle Kommunikation zu verbessern und Missverständnisse zu vermeiden. Grundlage ist die Messung der kulturellen Prägung nach den Dimensionen: L = linear-aktiv, M = multi-aktiv und R = reaktiv.
Bei solchen Kulturmodellen – neben Lewis z. B. Hofstede, Schein oder Hall – muss man sich natürlich immer fragen: Ist das jetzt einfach oder einfach falsch? Denn diese Modelle stellen immer nur eine grobe Vereinfachung dar.
In ihrer Untersuchung zur Anwendbarkeit von Kulturdimensionen (z. B. in Bezug auf deutsch-thailändische Begegnungen) kommt Stephanie Rathje zu dem Schluss: Eingeschränktes kulturelles Verständnis, wie es Dimensionsmodelle vermitteln, kann zu unwirksamen, ja hinderlichen Handlungsstrategien führen. Wenig kulturelles Verständnis erweist sich in diesem Fall als genauso schlecht, oder sogar schlechter, als gar keins.

Die Dimensionen des Lewis-Modells
Linear-aktiv geprägte Menschen sind eher sachlich orientierte, sukzessiv und strukturiert vorgehende Planertypen, die sich an Fakten, Ergebnissen, Zeitplänen, Institutionen und Gesetze halten; also typisch deutsche Eigenschaften – sagt das Lewis-Modell
Multi-aktive Typen sind dagegen emotional, redselig, impulsiv und orientieren sich an der Familie und ihrem Beziehungsumfeld. Hierfür stehen bei Lewis Südamerikaner, aber auch Italiener und Spanier.
Als reaktiv werden Menschen bezeichnet, die höflich und freundlich sind, sich anpassen und mehr zuhören, als selbst das Heft des Handelns sichtbar in die Hand zu nehmen.
Ein Besuch in der Schweiz
Die Schweiz gehört hier, genau wie Deutschland, zur Maximalausprägung für linear-aktive Kulturen. Ihr typischer Vertreter zeichnet sich durch folgende Verhaltensweisen aus:
- spricht die Hälfte der Zeit
- macht eins nach dem anderen
- plant Schritt für Schritt
- ist höflich aber direkt
- begegnet Konfrontation mit Logik
- hat einen deutlichen Arbeitsfokus
- orientiert sich an Fakten
- ist ergebnisorientiert
- agiert agenda-getrieben
- vertraut dem geschriebenen Wort mehr als dem mündlichen
- ist zurückhaltend in der Körpersprache
Wir Deutschen und die Schweizer haben also einen gemeinsamen Kulturkreis und eine gemeinsame Sprache, die uns als Schnittmenge mit dem Gegenüber verbindet.

Für unsere konkrete interkulturelle Kommunikation hieß das: Da in linear-aktiven Kulturen das geschriebene Wort zählt, haben wir in der Schweiz überwiegend den Papierprototyp eingesetzt, um unsere Ergebnisse zu festigen und zu vertiefen und so Antworten aus dem Interview konkret zu hinterfragen und einzelne Details zu prüfen.
Im linear-aktiven Kulturkreis diente der Prototyp also der Fixierung von Ergebnissen und als eine Art des geschriebenes Wortes, über das „verhandelt“ werden kann.

Spanien und Portugal
Die nächsten Interviews führten uns dann nach Spanien und Portugal. Beide Länder kennen viele von uns aus dem Urlaub und ein Bier zu bestellen klappt auch ganz hervorragendend – aber dann ist auch Schluss. Also brachten wir sicherheitshalber einen Dolmetscher ins Spiel.

Wo Spanien und Portugal auf der Weltkarte liegen, wussten wir bereits. Wo sie im Lewis-Denkmodell liegen, sei hier kurz erläutert. Als multi-aktive Kulturen zeichnet ihren typischen Vertreter hier nämlich Folgendes aus:
- spricht die meiste Zeit
- macht mehrere Dinge gleichzeitig
- plant den groben Rahmen
- begegnet Konfrontation emotional
- reagiert emotional
- legt seinen Fokus auf Menschen
- verleiht Gefühlen mehr Gewicht als Fakten
- ist beziehungsorientiert
- springt vor und zurück
- vertraut dem gesprochenen Wort
- ist offen in seiner Körpersprache
Reagiert emotional und spricht sehr viel? Für uns als linear-aktive Typen eine Herausforderung, wenn es um die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache geht. Außerdem stellte sich uns auch die Frage, ob ein Dolmetscher hier wohl Brücken baut oder eher zusätzliche Distanz schafft.

Wir haben beides erlebt. Gerade, wenn man den oder die Dolmetscher nicht persönlich kennt, sondern nur per Telefon und Mail, ist es schwer, das im Vorfeld einzuschätzen.
In Spanien hatten wir eine Dolmetscherin, die mit uns auf einer Wellenlänge war, und so an der gewünschten Brücke mitbauen konnte.
In Portugal hatten wir das genaue Gegenteil. Hier hat die Dolmetscherin sich während des Interviews zu uns rübergebeugt und gesagt: „Hej, der rückt nicht mit der Sprache raus, ich probiere mal was anderes.“ In solchen Fällen weißt du ja nicht genau, was gesprochen wird,
nur so viel, dass es nicht mehr dein Interview ist, was gerade geführt wird.
In dieser Situation haben wir dann den Clickdummy eingesetzt. Auch wenn die Oberfläche englischsprachig war, konnten wir so gemeinsam den Workflow durchgehen.
Anhand der offenen Köpersprache und mithilfe gebrochenen Englischs konnten wir tatsächlich mehr erreichen, als mit der Dolmetscherin.
Der Prototyp hat also manchmal eine Funktion, wie ein ohne Wörter Wörterbuch und ermöglich es auch ohne Sprache auf einen Nenner zu kommen. Zumindest in Kulturen die eine offene Körpersprache haben.
China
Nicht nur von der Kilometeranzahl scheint zwischen Deutschland und China die größte Distanz zu liegen.

Kommen wir ins Land der Mitte. China ist eine extrem reaktiv ausgeprägte Kultur. Ihr typischer Vertreter zeichnet sich nach Lewis durch folgende Eigenschaften aus:
- hört die meiste Zeit zu
- reagiert auf Aktionen anderer
- schaut auf generelle Prinzipien
- ist höflich und indirekt
- scheut Konfrontationen
- legt den größten Fokus auf Menschen
- wertet Statements als Versprechen
- ist harmonie-orientiert
- fragt oft nach Wiederholungen
- wertschätzt den persönlichen Kontakt
- hat eine wahrnehmbare aber dezente Körpersprache
Hört die meiste Zeit zu, ist höflich aber indirekt? Nicht gerade ideal für ein Interview, dessen Ziel klare Ergebnisse sind. Erst recht nicht angesichts der knappen Zeit, die uns zu Gebote stand.
Für uns stellte sich deshalb die Frage, wie wir in der kurzen Zeit unseres Besuchs eine Vertrauensbasis für das Gespräch schaffen konnten – diese Basis der sozialen Beziehungen heißt in China übrigens Guanxi.
Wir haben also überlegt, wie wir Guanxi herstellen können – und haben Gastgeschenke mitgenommen. Aber auch das ist im Kontext interkontinentaler Beziehungen alles andere als banal. Denn ein Geschenk soll ja nicht nur einen wertigen Eindruck machen, sondern muss auch in Sachen Größe und Gewicht ins Fluggepäck passen.
So hatten relativ schnell unseren Knirps Regenschirm im Auge. Mehr zufällig stellte sich dann heraus, was ein geschenkter Regenschirm in China bedeutet – nämlich: „Ich möchte dich nie wieder sehen.“ Letztendlich haben wir dann Spezialitätetn unseres Heimatstandortes mitgenommen und abends im Hotel in rote oder goldenen Verpackungen gesteckt – denn beide Farben symbolisieren in China Glück, Reichtum und Weisheit.
Wir hatten in China übrigens keine Einzelinterviews, sondern saßen immer Gruppen gegenüber. Das mit Gruppen ist in China so eine Sache, weil einer darin immer der Ranghöchste ist. Hierarchie hat in China nämlich noch eine größere Bedeutung, und so wird man in solchen Runden keine Widersprüche oder abweichende Meinungen zu der Meinung des Ranghöchsten hören. Ist der nicht mehr im Raum, kann sich das aber schnell ändern.

Was also tun in reaktiven Kulturen wie China, wo Höflichkeit, Indirektheit und die Scheu vor Konfrontation typisch sind und es nicht üblich ist, offen Kritik zu üben?
Allzumal diese Kritik für uns nicht nur wichtig, sondern Anlass der ganzen Interviewreise war, um unser geplantes Produkt, eine Software, zu verbessern?
Der Prototyp
Hier kommt wieder unser Prototyp ins Spiel.

Dieser diente uns in diesem Kontext nämlich als Projektion der Zukunft und es den Chinesen so, statt Kritik Wünsche für die Zukunft zu äußern. Dementsprechend haben wir auch die Fragen formuliert und statt über die alte Anwendung zu sprechen anhand des Prototyps geschaut, wie sie in der Zukunft noch effektiver ablaufen könnte.
Für die Nachbereitung haben wir dann auch die chinesischen Kollegen gebeten, Protokoll zu führen, um nichts zu verpassen, was evtl. nicht übersetzt wurde.
Fazit
Der Prototyp hat uns bei unserer interkulturellen Kommunikation sehr gute Dienste geleistet – sei es als „geschriebenes Wort“, als „Ohne-Wörter-Wörterbuch“ oder als Zukunftsprojektion, um Wünsche statt Kritik zu äußern.
Deshalb sagen wir – auch wenn Douglas Adams behauptet, ein Handtuch sei das Beste, was ein interstellare UX-Reisender besitzen könne – alles Quatsch, meistens gibt es in den Hotels dieser Welt sogar Bademäntel. Was viel mehr hilft als ein Handtuch ist a.) ein Prototyp und b.) das Wissen über die Kultur des Gegenübers, um den Prototyp als Werkzeug auch richtig einzusetzen.
Man muss übrigens auch gar nicht nach China reisen, um sich mit Kulturmodellen zu beschäftigen. Schließlich begegnen wir auch im Alltag und am Arbeitsplatz immer Menschen aus anderen Kulturen. Und ein wenig Verständnis für die Kultur des Gegenübers kann nur helfen, einander besser zu verstehen.
Empfehlung der Redaktion: In der Quelltext-Ausgabe 1-2018 lesen Sie ab Seite 12 ein Interview mit Simon Krackrügge zum Thema Digitalisierung und Agilität. Ferner sei allen, die sich mit dem Thema Agilität befassen, auch sein TECH TALK zur Agilen Dokumentation sehr empfohlen.